Draußen beobachtet

Früchte, die im Winter reifen

Vögel bevorzugen die Efeu- und Mistelbeeren

Von Professor Dr. Wilfried Stichmann. Erschienen im Soester Anzeiger am 18.01.2020


MÖHNESEE – Eigentlich sind die Früchte in unseren Breiten vor dem Beginn des Winters reif und geerntet. Bei allem heimischen Obst ist das auch der Fall. Aber keine Regel ohne Ausnahme! Und das ist gut so. Vielen Vögeln ginge es im Februar/März schlecht, wenn es keine Efeu- und Mistelbeeren gäbe. Denn die herbstliche Beerenflut – selbst der „Wintersteher“ wie Wasser-Schneeball und Liguster – ist im Spätwinter von den Vögeln verzehrt.
Der Efeu – in vielfacher Hinsicht eine hilfreiche Kletterpflanze, die Gebäude ummantelt und die Stämme hoher Bäume schmücken kann, ist im Möhnetal weit verbreitet. Er ist vielfach die Blütenpflanze, die als letzte im Spätherbst noch blüht und den Insekten – auch den Bienen – überreichlich Nektar anbietet, wenn alle anderen sich zur Winterruhe begeben haben. Bis hin zu den Fledermäusen gibt es viele Nutznießer, die sich dort versammeln, wo noch im Oktober/November der Efeu in voller Blüte steht.
Natürlich können die Efeubeeren nicht mehr im selben Jahr reifen. Sie gehen als knapp angedeutete Früchte in den Winter, entwickeln sich bis Januar zu kleinen grünen Beeren und sind bis März schwarzblau und reif. Eine willkommene Nahrung vor allem für Drosseln, die oft in ganzen Schwärmen in alte, an mit blütenreichen Lichttrieben ausgestattete Efeumänteln am Waldrand einfallen.
So ähnlich sieht es bei den Misteln aus, die als Halbschmarotzer auf Pappeln, Apfelbäumen und Linden leben und seit einigen Jahren dabei sind, das Möhnetal zu besiedeln und sich weiter südwärts in das Sauerland auszubreiten. Die Misteln öffnen ihre kleinen, unscheinbaren Blüten zwar schon im März/April, brauchen aber bis zur Reife nahezu ein volles Jahr. Den ganzen Winter über haben die Vögel kein Interesse an den zunächst noch grünlichweißen Beeren gezeigt. Erst die Mönchsgrasmücken, die im März/April von ihrer Winterreise zurückkehren, fallen heißhungrig über die inzwischen schneeweißen, innen klebrigen Beeren her und ernten binnen weniger Tage die gesamte Beerenpracht ab. Merkwürdigerweise wurden am Möhnesee immer nur die Mönchsgrasmücken und nicht wie anderswo auch Drosseln – vor allem Misteldrosseln – bei der Beerenernte beobachtet. Vielleicht ist in der heimischen Vogelwelt der neue Strauch auf manchen Bäumen wie etwa der Linde am Tollpost noch nicht so bekannt. Hinzukommt, dass das Fruchtfleisch der Mistelbeeren nicht so leicht zu genießen ist, wie das der anderen Beeren. Das klebrig-schleimige Fruchtfleisch, das den Kern umgibt, führt dazu, dass der Kern am Vogelschnabel kleben bleibt und erst durch Wetzen des Schnabels am Ast, auf dem der Kostgänger sitzt, beseitigt werden muss. Die Mistelbeere ist am Ziel, an einem Ort, wo sie keimen kann. die Mönchsgrasmücke beherrscht diese Technik meisterhaft.
Die klebrige Eigenart der Mistelbeeren betont auch der wissenschaftliche Artname „Viscum“, lateinisch, übersetzt „Vogelleim“. Zum Vogelfang wurde er nämlich benutzt. Und wir sagen heute noch, ein Stoff sei „viskos“, wenn er zähflüssig und leimartig ist.