Draußen beobachtet

Hörbarer Blühbeginn

Eine merkwürdige Nordamerikanerin in Europa
Von Professor Dr. Wilfried Stichmann. Erschienen im Soester Anzeiger am 04.07.2018


MÖHNESEE – Wildblumen mit einem Blütendurchmesser von fünf bis sechs Zentimeter sind vergleichsweise selten. Zu ihnen gehören die Nachtkerzen, die aus dem Botanischen Garten von Padua seit 1619 Europa erobern. In Deutschland haben sie sich auf dem großen Schotter der Bahndämme vorzugsweise ausgebreitet. Die Botaniker haben diese stattliche, über einen Meter große Art beobachtet und exakt kartiert.

In Westfalen sind die Nachtkerzen auf geeigneten Schutt-Standorten vielerorts heimisch. Sie gehören zur typischen Ruderalflora. Dabei ist es nicht mehr unbedingt die aus Nordamerika importierte Art. Ungewöhnlich zahlreich sind in ihrer neuen Heimat neue Arten entstanden, die sich von der Ausgangsform nur wenig unterscheiden und inzwischen ein interessantes Forschungsfeld für manche Genetiker stellen.

von Enrico Blasutto [GFDL (http://www.gnu.org/copyleft/fdl.html) oder CC BY-SA 3.0 (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0)], vom Wikimedia Commons

Nachtkerzen sind ausgesprochene Langtagpflanzen, die nur in den langen Sommernächten ihre großen gelben Blüten öffnen. Erst in der Dämmerung reißen die fünf Kelchblätter auf und entfalten sich die Blütenblätter unter einem deutlich vernehmbaren Geräusch. Die ganze Nacht hindurch bis zum Mittag des zweiten Tages locken jeweils einzelne Blüten der traubenförmigen Ähre in der Dunkelheit die Nachtfalter und morgens danach bis mittags Bienen, Hummeln und Tagfalter zur Bestäubung an.

Dass die fleischigen Wurzeln der Nachtkerze den Indianern bereits als wohlschmeckendes Gemüse und als Heilmittel bekannt waren, lockt inzwischen auch Europäer zur Nachahmung. Die Samen, die zahlreich ab August/September in den Kapseln reifen, finden für Kosmetika Verwendung. Vor allem aber sind es die stattlichen tellerförmigen Blüten, die den Menschen Freude bereiten, vor allem wenn sie die Nachtkerzen in den Abendstunden und früh morgens erleben. Zugleich sind sie ein Beispiel dafür, dass manche Neophyten durchaus eine echte Bereicherung urbaner Standorte sein können.