Draußen beobachtet

Zwischen Brutgebiet und Winterquartier

Vögel vollbringen bewundernswerte Leistungen

Von Professor Dr. Wilfried Stichmann. Erschienen im Soester Anzeiger am 26.10.2019


MÖHNESEE – Die Flugformationen der Kraniche sind im Frühling und im Herbst für die Menschen in Stadt und Land Inbegriff von „Vogelzug“. Doch das Phänomen der Vogelwanderungen zwischen dem Brutgebiet und dem entfernten Winterquartier ist weit vielschichtiger. Der auffällige Kranichzug ist im Binnenland im Grunde genommen eine Ausnahme. Das Phänomen Vogelzug vollzieht sich zwar allenthalben, ist aber meistens weniger spektakulär. Die meisten Singvögel ziehen einzeln, dazu viele bei Nacht.
Wenn morgens mit einem Male mehrere Rotdrosseln den Garten bevölkern, die gestern noch nicht da waren, handelt es sich vielleicht um jene, deren zieh- und zip-Rufe man nachts zwischen den Häusern hörte. Tags suchen sie am Boden Nahrung. Das schaffen Rauchschwalben im Fluge, der beim Wegzug oft ungerichtet erscheint. Erst wenn man mehrere Einzelgänger beobachtet, fällt auf, dass die Mehrzahl nach Südwesten zieht.
Auch haben keineswegs alle Zugvögel Afrika als Ziel. Viele bleiben in Europa, brechen erst spät auf und sind schon früh wieder da. So etwa Stare und Bachstelzen. Bei den Buchfinken gehen nur die Weibchen auf eine kurze Reise, die Männchen bleiben gleich „ehelos“ (coelebs) zurück. Demgegenüber kommen die mit ihnen verwandten Bergfinken als sogenannte „Invasionsvögel“ nur in manchen Jahren, wenn die Nahrung knapp ist, aus Lappland zu uns, dann aber oft in riesengroßen Schwärmen.
Bei manchen Vogelbewegungen, die oft für Vogelzug gehalten werden, handelt es sich nur um Flüge zwischen ergiebigen Nahrungsorten und dem Nachtquartier. So überqueren oft Graugänse – manchmal sogar in Formation – die Dörfer am Möhnesee. Auch die Lachmöwen, die abends scharenweise zum See kommen, haben dort nur ihren Schlafplatz.
Am sichersten registriert man das Phänomen Vogelzug, wenn im Frühjahr nach Monaten der Abwesenheit der Zilpzalp oder die Mönchsgrasmücke wieder da sind und singen. Die Abreise im Herbst ist weniger auffällig, weil die Sänger schon lange vor Antritt der Winterreise ihren Gesang eingestellt haben. Vogelkundler erleben den Vogelzug am Möhnesee, indem sie wieder die aus Nordeuropa stammenden Gänsesäger und Schellenten sehen.
Wahre Höchstleistungen, die nur durch Wiederfunde beringter Vögel belegt und gewürdigt werden, vollbringen einige Vogelarten, die das Mittelmeer und die Sahara, sogar die Tropen überqueren und in Südafrika den Winter verbringen. Während der Mauersegler als Extremsportler da schon häufiger genannt wird, gehört der Fitis zu den unbeachteten Größen unter den Zugvögeln.
Damit ist nur die Vielfalt der Erscheinungsformen von Vogelzug angesprochen. Noch bewundernswerter sind die energetische Leistung, das Orientierungsvermögen und das Gedächtnis dieser vielen Kreaturen, an denen wir Menschen unsere Freude haben und die wir als Teile der Schöpfung auch in Zukunft bewahrt wissen möchten.