Draußen beobachtet

Goldhähnchen attackiert Spiegelbild

Von Professor Dr. Wilfried Stichmann. Erschienen im Soester Anzeiger am 18.05.2019


MÖHNESEE – Nun beobachtet man die Vogelwelt schon seit der Jugend. Und doch erlebt man auch im Alter immer wieder Einmaliges oder Noch-Nie-Dagewesenes, zumindest nie zuvor beobachtetes Verhalten der gefiederten Geschöpfe. So vielfältig ist tierisches Verhalten.
So beim Kaffeebesuch neulich in einem Haus, benachbart dem Landschaftsschutzgebiet, das als Wiesental die Neubaugebiete vom Körbecker Dorfkern trennt. Plötzlich wird die Unterhaltung von Geräuschen an der Fensterscheibe unterbrochen. Ein winziger Vogel flattert vor dem Glas. Erst nur kurz, dann minutenlang und in Abständen immer wieder. Sogar ein leises Picken an der Scheibe ist zu vernehmen, als wolle der Zwerg Einlass in die gemütliche Stube erzwingen.
Die Situation ist nicht neu. Mehrfach wurden Buchfinken, vereinzelt ein Kleiber und sogar schon eine Elster bei ähnlich aggressivem Verhalten an spiegelndem Glas beobachtet. Auch Leser berichteten davon. In allen Fällen handelt es sich um ein instinktives Fehlverhalten der Vögel, die ihr eigenes Spiegelbild sehen und darin einen Rivalen vermuten, den sie aus ihrem Revier zu vertreiben versuchen. Verursacher dieses destruktiven Phänomens ist der Mensch, denn in einer rein natürlichen Umwelt würde kein Vogel spiegelnden Glasscheiben begegnen.
Das besondere des Erlebnisses an jenem Nachmittag in Körbecke war, dass es sich um einen ausgesprochen streitbaren Zwerg handelte, um ein Goldhähnchen. Es ist eine der beiden kleinsten Vogelarten Deutschlands, nur fünf Gramm schwer und bei aller Zartheit ein kleines Energiebünde, das auch in den Folgetagen immer wieder an der Glasscheibe zu kämpfen versuchte.
Genau genommen handelte es sich um ein Wintergoldhähnchen, das so heißt, weil es als Standvogel auch den Winter über bei uns bleibt. Die Zwillingsart, das kleine Sommergoldhähnchen, verbringt den Winter irgendwo am Mittelmeer. Beide Arten sind erst bei uns heimisch geworden, seit der Mensch die Fichte zur häufigsten heimischen Waldbaumart machte, das heißt sei gut 200 Jahren. Die Kunst der Goldhähnchen ist es, auf den Nadeln zu sitzen und kleine Insekten zwischen den Nadeln zu erbeuten. Bis auf eine Zeder, zwei Kiefern und eine dichte Eibenhecke hat das Wintergoldhähnchen keine weiteren Nadelbäume in seinem Revier. Aber das genügt ihm offensichtlich als Insel in der durch viel Grün, aber durch Laubgehölze geprägten Umgebung.
Aber was tun, wenn der gefiederte Revierverteidiger immer wiederkommt? Die Rollos herunterlassen und dem irregeleiteten Vogel den Anblick des vermeintlichen Rivalen ersparen!