Draußen beobachtet

Der zutraulichste Nachbar

Was dem Rotkehlchen am Wildschwein gefällt
Von Professor Dr. Wilfried Stichmann. Erschienen im Soester Anzeiger am 12.12.2018


MÖHNESEE – Unter allen Vögeln des Gartens ist keiner so zutraulich wie das Rotkehlchen. Jedermann erkennt es an der roten Brust, die alle erwachsenen Rotkehlchen haben. Nur die Jungen verzichten darauf, zumindest bis zum ersten Herbst. Sie alle sind typische Einzelgänger, die auch im Winter ihr Revier für sich beanspruchen und dies gelegentlich mit einem Lied dem Nachbarn kundtun.
Die Zutraulichkeit des Rotkehlchens hängt auch damit zusammen, dass es den Zweibeiner als Gärtner kennengelernt hat, der mit der Grabeschaufel den Boden und das Welklaub wendet und sich am Komposthaufen zu schaffen macht. Dadurch erspart er dem Rotkehlchen das mühsame Wenden der Blätter, um an die winzigen Insekten und Spinnen zu gelangen, die seine Lieblingsspeise sind. Im Wald hält es sich aus eben demselben Grunde gern in der Nachbarschaft des Wildes, vor allem der Wildschweine auf – die nachts für Wanderer und Spaziergänger tags darauf sichtbar – den Waldboden und die Seeufer großflächig „ackern“.
Aber nicht nur in seinem Namen bringen wir zum Ausdruck, dass wir es für besonders niedlich halten. Nur wenige wie die Goldhähnchen schmücken wir mit der Verkleinerungsform Rotkehl“chen“. Auch die ungewöhnlich großen Augen und seine knicksenden Bewegungen sprechen den Tierfreund an. Der Biologe erkennt an den großen Augen – ebenso wie bei den Eulen und Käuzen – die Dämmerungsvögel, die auch mit wenig Licht zurechtkommen.
Nicht alle unsere vertrauten Rotkehlchen in der Nachbarschaft bleiben uns auch im Winter treu. Manche ziehen es vor, die kalte Jahreszeit in den Mittelmeerländern oder in Frankreich zu verbringen. Dafür kommen andere aus Skandinavien oder aus dem Osten zu uns, aber immer als Einzelgänger, nie in Schwärmen oder Trupps.
Selbst in der Brutzeit kümmern sich die Partner jeweils einzeln um den Nachwuchs. Das Weibchen bebrütet allein 14 Tage lang die fünf bis sechs Eier. Das Nest der Rotkehlchen befindet sich am Boden oder in Bodennähe, oft in halben Höhlen oder in Klüften.
Wenn es im Spätsommer oder Herbst ein reiches Angebot an Früchten gibt, werden diese zumindest zeitweise der tierischen Nahrung vorgezogen.
Manchmal findet das Rotkehlchen im Winter auch im Vogelfutterhaus etwas, was ihm schmeckt.