Draußen beobachtet

Halbe Schmarotze

Misteln sind auf dem Vormarsch
Von Professor Dr. Wilfried Stichmann. Erschienen im Soester Anzeiger am 29.11.2017


MÖHNESEE – Auf den winterlich kahlen Bäumen sind in den Wipfeln die grünen Misteln nicht zu übersehen. Immer zahlreicher dringen sie von Norden her, wo sie ihr Verbreitungszentrum haben, auch in das Möhnetal vor. An der Sperrmauer, in der Meesenhelle, an der Möhneseeklinik und in Ellingsen sind die kugeligen Halbschmarotzer am weitesten Richtung Möhnetal vorgedrungen. Pappeln sind die bevorzugten Wirtsbäume.

Quelle: Angelika von Tolkacz

Sowohl biologisch als auch kulturgeschichtlich gehören die Misteln zu den interessantesten Pflanzen unserer Heimat, die in der Vorweihnachtszeit gern zur Dekoration benutzt werden. Dazu bietet man sie gelegentlich auf dem Markt in Soest an. Angesichts der Tatsache, dass sich die Misteln zurzeit stark vermehren und ausbreiten, gibt es gegen die Entnahme auch keine Bedenken des Naturschutzes. Exakte Kartierungen haben ergeben, dass sich der Bestand der Misteln in den letzten 40 Jahren vervier- bis versechsfacht hat. Wo die Misteln in Streuobstwiesen auf Apfelbäumen parasitieren, wird bereits zu deren „Bekämpfung“ aufgerufen.
Genau genommen sind die beliebten Brauchtumspflanzen, unter denen man küssen darf, ohne zu fragen – zumindest wenn sie unter dem Türbogen aufgehängt wurden – gar keine echten Schmarotzer. Sie holen sich von dem Wirtsbaum, auf dem sie leben, nur das Wasser. Die „Nahrung“ in Form der Kohlehydrate produzieren sie selbst mit Hilfe ihres Blattgrüns. Botaniker nennen sie deshalb „Halbschmarotzer“.

Quelle: Angelika von Tolkacz

Besondere Bedeutung hat eine Mistel-Population am Möhnesee, die im Rahmen der Mistel-Kartierung entdeckt wurde, weil sie auf Eschen lebt. Eschen aber sind bislang nirgendwo in Deutschland als Mistelwirte registriert worden. Gerade solche Misteln aber werden für die Herstellung eines Medikaments zur Krebstherapie benötigt und von einigen der seltenen Vorkommen in Frankreich bezogen. In der vorigen Woche haben bereits Experten eines pharmazeutischen Instituts in Baden-Württemberg Proben der Eschen-Misteln genommen, die sich zwischen dem Seeufer und der Uferpromenade an der Strecke von der „Taucherbucht” zur Schiffsanlegestelle befinden und merkwürdigerweise auf 16 Eschen eng begrenzt sind.